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Nr. 4820

posthumer Farbholzschnitt: "Berge"

Wassili Kandinsky (1866 - 1944)
Jugendstil
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Farbholzschnitt auf kräftigem, chamoistonigem Papier, welches vorder- und rückseitig typografisch bedruckt ist. Im einem älteren Passepartout. Blattmaße ca. 27,8 x 20,8 cm, Bildmaße ca. 17,5 x 12 cm, geringe Alters-, Griff- und Lagerspuren. Es dürfte sich hier um einen posthumen Holzschnitt aus dem Oeuvrekatalog Kandinskys von 1970 handeln. Die Druckstöcke wurden ohne photographischer Zwischenaufnahmen direkt nach den Originalen hergestellt. Ursprünglich wurde der Holzschnitt in dem unten aufgeführten Buch "Klänge" veröffentlicht (WVZ Roethel Nr. 122).

"Der Sammelband „Klänge“, 1913 beim Piper Verlag in einer Auflage von 345 Exemplaren veröffentlicht, vereint 38 Prosagedichte (aus den Jahren 1909 bis 1911) mit zwölf Farb- und 44 Schwarzweiß-Holzschnitten von Wassily Kandinsky, die zwischen 1907 und 1912 entstanden sind. Die enthaltenen zehn Improvisationen, in denen er die Eindrücke seiner „inneren Natur“ gestaltete, stellen, wie schon der Titel, die Verbindung zur Musik her. Kandinsky wollte die Holzschnitte, die sich nicht direkt auf die Gedichte beziehen, als schmückende Applikation zu den Gedichten und nicht als vordergründige Illustration verstanden wissen. In diesem „musikalischen Album“ suchte er Lyrik, bildende Kunst und Musik zu vereinen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Kandinsky auf dem Weg, die Malerei vom Gegenstand zu befreien, so wie er es in Schönbergs Musik vorformuliert fand. Nach dem Besuch eines Schönbergkonzerts in München Anfang 1911 schrieb er begeistert an Schönberg: „... Das selbständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Compositionen ist gerade das, was auch ich in malerischer Form zu finden versuche.“ So wie Schönberg die Abkehr von der Tonalität vorbereitete, ebnete Kandinsky der Malerei den Weg in die Abstraktion. Der Farbholzschnitt ‚Berge‘, 1911 nach einem Entwurf aus der Zeit 1908/09 ge­schnitten, steht im Zentrum des Buches. Er dient sozusagen als Spiegel, von dem aus sich die Gedichte und Holzschnitte gleichmäßig nach vorn und hinten verteilen. Der querformatige Farbholzschnitt wird von einer blaugrünen, unre­gelmäßigen, dünnen Linie begrenzt, doch ist das eigentliche Motiv oval, denn Kandinsky druckte eine gelbe Platte, die wie eine Passe wirkt. Sie gibt den Blick auf eine Berglandschaft mit Figuren frei. Von der oberen Mitte aus scheint das Gelb der Passe, mit schweren roten und einigen dunklen Tropfen, ins Zentrum des Bildes zu strömen und löst so die Grenze zwischen Rahmen und Bild auf. Es schiebt sich vor die roten Berge, so dass rechts nur eine kleine regelmäßige Bergkette hinter einer sie überragenden Tanne zu sehen ist, während links ein einzelner Berg in den blauen Himmel ragt. Alle Gipfel sind schneebedeckt, doch um­schwebt den Einzelgipfel eine kleine weiße Wolke, wie ein Rauchkringel. Auf der Wiese vor dem Berg stehen zwei Frauen mit ausgebreiteten Armen, deren lange Kleider stark stilisiert sind. Von rechts kommt ein Reiter mit grünem Pferdekopf und blaugepunktetem rotem Umhang auf einem geflügelten Schim­mel auf die Frauen zu. Die Flügel des Pferdes könnten auch eine rote Decke sein, die den stark überlängten Pferderücken bedeckt. Hinter dem Reiter steht eine lä­chelnde Frau in langem, blauem Kleid in tänzerischer Pose. Auch ihre Arme sind ausgestreckt, wobei sie mit einer Hand nach oben zu weisen scheint. Zwischen ihr und dem Schimmel fließt ein kleiner Bach mit weißen Wellen, der auch als Pferdeschweif deutbar ist. Kandinsky druckt die Primärfarben Rot, Blau und Gelb. Durch Übereinander­drucken entstehen Grün, Lila und Braun, das Weiß des Papiers ist die siebte Farbe. Allein die Berge haben eine zarte Binnenstruktur. Die leuchtenden Farben sind direkt nebeneinander gesetzt und in ihrer Strahlkraft nicht durch eine kon­turgebende Schwarzplatte gedämpft. Die Konturen werden im Gegenteil durch den nicht passgenauen Druck aufgebrochen, wodurch die Darstellung leben­diger wirkt. Zusammen mit der starken Vereinfachung des Dargestellten ent­steht ein naiver Ausdruck, der wie eine Illustration zu einem russischen Märchen wirkt. Das Unbestimmte dieser Darstellung öffnet die Möglichkeit zur Assoziation: Ist ein russisches Zauberpferd gemeint, oder sollte Pegasus, das Musenross, die Fantasie des Künstlers beflügeln? Dann ließe sich das gelbe, amorphe Gebilde als Danaës Goldregen interpretieren, doch wäre die blaue Dame dann Danaë oder Andromeda? Oder lodert doch eine Flamme empor, von der glühende Funken stieben? Die Technik des Farbholzschnittes zwingt zwar zur Vereinfachung der Form, doch das Verunklarende ist gewollt: „Unverständlich muß manches zuerst wir­ken. Dann kommt das Schöne zum Vorschein. Und erst dann das Innere, für den fein Empfindenden. Das Ding muß "klingen", und durch diesen Klang kommt man nach und nach zum Inhalt. Der muß aber niemals klar sein und zu einseitig: je mehr Möglichkeit für die Phantasie und Interpretation, desto besser“, schreibt Wassily Kandinsky." Quelle: Elvira Mienert (Reutlingen, 05.06.2017) auf www.swp.de