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Synthese aus Tradition und Revolution

Zu den Strandzeichnungen von Karl Völker

„Die Natur muß in uns neu entstehen, wir erfahren sie neu von Kind an.
Das Kunstwerk ist unsere Erfahrung, unser Staunen vom Maß der Dinge.“
August Macke, 1913

Es geht um einen Übergang, vielleicht auch um ein Umdenken, wenn der hallenser Maler Karl Völker plötzlich und für so manchen Betrachter gewiß un-erwartet sich anderer Ausdrucksmittel bedient. Natürlich kennen wir solche Umbrüche bei vielen Künstlern zur Genüge, etwa wenn Otto Dix sich von der Lasurmalerei abwendet und wieder alla prima malt. Karl Völker ist uns in erster Linie vertraut als Maler von Bildern voller visionärer Kraft, in denen das Geo-metrisieren der Gegenstände und gewisse Formverfestigungen einen Hang zum Konstruktiven verdeutlichen. Man denke an solche Gemälde wie „Arbeitermittagspause“ (1923) und „Bahnhof“ (1924). Eine exakte Linienführung und die scharfe Präzision architektonischer Elemente sind charakteristische Besonderheiten dieser Malerei. Die Statik, der bekennerische Bezug zum Gegenstand, das kalte Inkarnat, die glatte Bildoberfläche und die genaue Zeichnung im Fi-gürlichen, all dies ist doch ein antiexpressionistischer Zug, der eigentlich nichts anderes als Distanz kultiviert und Entfremdungskälte freisetzt. Man hat deshalb Karl Völkers Malerei mit den „Kälteräumen“ der Neuen Sachlichkeit in Zusammenhang gebracht, was sicher nicht ganz richtig ist. Er hat auch im Sinne des Verismus gearbeitet, wie sein Bild „Proletariermädchen“ (1925) zeigt. Ein ganz erstaunliches realistisches Gemälde! Der Kunst eines Otto Dix durchaus ebenbürtig! Die Konturen des Grafikers sind bekannt. Vor allem im Holzschnitt hat Völker Überragendes geleistet. Es handelte sich da um eine ausgesprochen engagierte, ja, zutiefst politische Kunst in linken Presseorganen.

Das Mitglied der „Novembergruppe“ trat für eine ethisch-menschheitliche Erneuerung der Kunst ein - angesichts der Brüchigkeit, der Absurdität der Welt, den traumatischen Erfahrungen der in ihrer Existenz bedrohten Menschheit. Völker war da ein Revolutionär im besten Sinne des Wortes, geprägt von einer „urchristlich gefärbten sozialen Ethik“, wie Wolfgang Hütt es einmal nannte. Gefühlspathetik beherrscht seine Kunst, ja, er bildet geradezu einen „Verkündi-gungsstil“, dies insbesondere in seinen Wandgemälden, die, sofern sie nicht zerstört wurden, heute so nach und nach wieder in unser Gesichtsfeld treten.

Vielschichtig ist demnach das Schaffen Karl Völkers. Er beginnt als Expressionist, orientiert sich sodann am Konstruktivismus, der Neuen Sachlichkeit, dem Verismus und kommt zu einer „vertiefteren Realitätssicht“.

Aber dieses Werk ist, so scheint es wenigstens, vom Dämonischen durchwaltet. Überall lauert das Unbekannte-Unerkennbare, in das der Mensch verschlungen ist wie in einen Abgrund. Man könnte meinen, der Künstler ist ein Metaphysiker. Es ist eine starre Stille in vielen seiner Bilder, die einem den Atem nimmt. Er gräbt in die Tiefe, und seine Bildgegenstände bezeichnen in ihrer Direktheit soziale Erscheinungen, die uns zweifeln lassen und die manchmal auch eine anklagende Note haben. Und mit einem Mal und fast gleichzeitig mit den Verkündigungen einer unmenschlichen Wirklichkeit in Kälteräumen voller Derbheit, in denen die Menschen als gespenstische Scharen treiben, die vom Glück Vernachlässigten, erschließt sich der Maler in seinen Strandbildern von Nord- und Ostsee etwas gänzlich Neues. Diese mußten erst wiederentdeckt werden, um zu erfahren, daß der Künstler nicht nur voller Zweifel und Argwohn sich auszudrücken vermochte, sondern Malerei auch von ihrer „ersten Bedeu-tung“ her, wie man vielleicht sagen könnte, verstehen wollte. „Poussin auf Grund der Natur erneuern“ soll Cézanne gesagt haben. Nun, die seherischen Modulationen Völkers treffen wohl den Kern dieser Aussage, sie künden von einem unermüdlichen und unbestechlichen Anschauen. So bescheiden, so klein auch, wie sich diese kostbaren Zeichnungen und Malereien im Vergleich zum Gesamtwerk des Künstlers behaupten müssen, sie fördern doch etwas zutage, was dem schweren und versonnenen Schaffen Völkers eigentlich vollkommen entgegengesetzt ist.

Man muß es sich vielleicht so vorstellen: als expressionistischer oder konstruktivistischer Maler, der auch ein bedeutender Architekt war, kämpft dieser Mensch gleichsam entrückt, isoliert zwischen den Welten des Inneren und des Äußeren und sucht nach einer Möglichkeit, beide zu verbinden. Da ist einerseits die leuchtende Bucht mit dem Traum des Wohllebens und andererseits die düstere Gewalt der städtischen Steinwüste mit dem Hauch einer Shakespearschen Melancholie. In Versen und Prosa hat ihr der proletarische Dichter Walter Bauer, etwas jünger als Völker, Ausdruck verliehen in seinen „Stimmen aus dem Leunawerk“.

Er und auch Ernst Toller sind Geistesverwandte im „Rausch der Straßen und dem Dröhnen der Häuser“. Aber auch Ernst Toller, dieser ekstatische Dramatiker der proletarischen Revo-lution hat nicht nur das Massenelend und den Schmerz beschrieben, sondern auch das Glück und das Leben und dann das wunderbare „Schwalbenbuch“ verfaßt, in „sanfter lyrischer Hingabe“. Wir sehen mithin bei Karl
Völker neben dem Untergang die Lust, neben dem Ernst das Lächeln. In seinen Strandzeichnungen gibt er Antwort auf die Stimmung der Menschen in Farben, im formalen Spiel mit Malstiften, im Einsatz von Wasserfarben und Pinsel.

Der Künstler ist womöglich den Dargestellten, dem auf der Promenade oder am Sandstrand vorbei defilierenden Publikum mit seinem psychischen Erleben unmittelbar gegenwärtig. Ungefiltert überträgt der Pinsel und die Farbe den emotionalen Inhalt in die Darstellung. Und im Grunde geht es nur um „gute Malerei“ und um „schöne Farbe“. Die Zeichnungen sind ungewöhnlich hell und alles vom Licht durchflutet. Eindringlich wird das Diesseits als etwas Tröstliches beschrieben. Auch Ironie ist im Spiel, die bunten Strandkörbe, die Kleidung, die Köpfe. Es ist ja nicht die Nachtseite der Welt, der Gesellschaft, sondern eine Statisterie, ein Szenarium kindhafter, unverfälschter Menschlichkeit, das sich einem auftut. Vielleicht hat das Kreatürliche einer Badegesellschaft den Maler gereizt. Vielleicht auch das Summarische, die eigenartige Eintracht der Sonnenhungrigen, dazu die bunte Farbigkeit dieser sonderbaren „Zwitterwelt des künstlich Natürlichen“.

Man denkt ganz unwillkürlich an Dufy, jenen französischen Maler überaus heiterer und festlicher Bilder voller impressionistischer und fauvistischer Far-bigkeiten, auch da mit dekorativen Wimpelketten, wie sie allerorten in den Seebädern einmal üblich waren. Und man könnte auch an die verführerisch schönen Bilder von Jules Pascin denken, der in einem feinen Lineament dünner, luftiger Striche Menschenansammlungen zu skizzieren verstand. Diese Gelöstheit, ja, freudige Dynamik – von „lächelnder Gelöstheit“ sprach man bei Pascin – kennzeichnet gleichermaßen das zeichnerische Werk Völkers.

Doch noch ein anderer Hinweis wäre hinsichtlich der lustvollen und heiteren Bilder Völkers sicher angebracht: die Nähe zum Werk von Charles Crodel. Dieser kam zwar erst im Januar 1927 nach Halle auf den Giebichenstein, aber die zeichnerische Frische, der vielgerühmte Schwung seines Strichs, die gelöste, offene Formgebung und das Affektlose seines Schaffens, dürften dem nur fünf Jahre jüngeren Völker nicht verborgen geblieben sein. Crodel kam von Munch und Kirchner und hatte Anregungen von Kokoschka aufgenommen. Seine Schüler hatte er darauf hingelenkt, „das Leben vornehmlich in sonnigen Gefilden zu sehen oder ihm dort nachzuspüren, wo Dämmerung und Nacht den Blick zu den Sternen erheben“, wie es einer der Crodel-Schüler formulierte. Crodel besaß noch eine „natürliche Naivität“. Und nicht die rohe und manchmal grausame Wirklichkeit steht im Mittelpunkt seiner Malerei. Das Ideal im wahrgenommenen Naturausschnitt zu sehen, war ihm wichtig. Crodel und Völker, es waren womöglich zwei gegensätzliche Naturen. Aber vielleicht genügte es Völker nicht, die Kunst allein mit dem politischen Kampf zu verbinden, vielleicht war es ihm auch ein Anliegen, ein gewisses Glück und Wohlbehagen zu verkünden, eine Kunst voller Gleichgewicht, Reinheit, Ruhe. „Mit einem Blick aus der Wirrnis in die Harmonie gezogen und von ihr gefesselt zu sein“, um es mit Worten von Hans Purrmann zu umschreiben.

Jedenfalls offenbart Karl Völker mit seinen Strandbildern auf eine aufrichtige Weise, „leise und eindringlich“ wohl, eine Sehweise, die auf die tiefe Heiterkeit der Kunst gerichtet ist.


Gert Claußnitzer